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Deutsch-Baltische Konferenz in Vilnius 2020

„Europe shall hear you. Europäische Antworten auf Zukunftsfragen“ –

Ein Ruf nach Bildung


Ein Tagungsbericht von Dr. Martin Maurach


Die Deutsch-Baltische Konferenz in Vilnius vom 16. bis zum 18. Oktober 2020 bot ein eindrucksvolles Bild produktiver, rationaler Diskussionen vor allem jüngerer Leute aus unterschiedlichen Ländern, ins


piriert durch anerkannte Experten, Praktiker und Politiker. Die Tagung wurde vom Deutsch-baltischen Jugendwerk unter der Schirmherrschaft des Leiters der Vertretung der EU-Kommission in Vilnius, Arnoldas Pranckevičius, veranstaltet und fand, überwiegend in englischer Sprache, hybrid sowohl in Vilnius als auch in der virtuellen Welt statt.


Europäische Zukunftsfragen wurden in vier ‚Clustern‘ verhandelt: „Gegenseitigkeit oder Gegeneinander - Ein Weg zwischen Individualismus und Kollektiv?“ (A), „Für manche oder für alle? Wie können wir Teilhabe in einer digitalisierten Gesellschaft gestalten?“ (B); „Wem sollen meine Daten gehören? - Datensouveränität“ (C); und „Cure or Design? Welche Gentechnologie wollen wir?“ (D).


Jeder der „Cluster“ wurde durch einen Keynote-Vortrag eingeleitet und durch Panel-Referate strukturiert; darüber hinaus wurde durch Martin Pabst das GBYEN-Netzwerk vorgestellt, das eine Plattform für die allgemeine Zusammenarbeit im deutsch-baltischen Jugendaustausch werden soll und dem man online beitreten kann.


Der Eröffnungsvortrag von Jörg Noller galt dem Menschenbild von Kant. Aus dem kategorischen Imperativ, der Forderung nach einem Primat der Moral und dem Verbot, Menschen jemals nur als Mittel zu behandeln, ließen sich Maßstäbe für die heutige Politik der EU gewinnen. Die Diskussion wies andererseits u.a. auf Grenzen von Kants Menschenbild angesichts einer technokratischen Postmoderne hin. Man war sich einig, dass keine Klone darin vorkamen - die Kant zweifellos nicht vorhersehen konnte -, dass aber etwa auch behinderte Menschen bei ihm nicht ausdrücklich erwähnt würden.


Die Keynote-Vorträge zu den einzelnen Clustern zeigten ein breites Spektrum von rhetorischem Geschick und thematischer Konzentration.

Für den Cluster A beschrieb Nils Köbel Gerechtigkeit als einen rationalen Entscheidungsprozess, in dem ein aktiver Ausgleich, eine Vermittlung zwischen den speziellen Werten von Gemeinschaften wie z.B. Familien oder Konfessionen einerseits und der Gesellschaft andererseits anzustreben sei, in welcher universale Werte gelten würden und die sich aus Rollenträgern zusammensetze. Um zu verstehen, wie gerechte Entscheidungen innerhalb einer Gesellschaft funktionieren könnten, solle man sich am besten - in einem Gedankenexperiment - vorstellen, diese würden ‚hinter einem Schleier des Nichtwissens‘ getroffen, d.h. unter fingierter Abstraktion von den eigenen Rollen, der eigenen Identität. Der Soziologe John Rawls, auf den hier Bezug genommen wird, paraphrasiert damit natürlich seinerseits Kants kategorischen Imperativ.


Generell wirkten vor allem die Abschlusspapiere, welche die einzelnen Gruppen präsentierten, eindrucksvoll und konzentriert. So auch beim Cluster A, der bereits ein Leitmotiv aller Gruppen anschlug, nämlich die Forderung nach besserer Bildung und Erziehung. Junge Leute sollten in die Politik, wüssten andererseits zu wenig über Europa. Zugleich sei es notwendig, über die Grenzen der EU hinauszudenken.

Cluster B forderte verbindliche europäische ethische Standards für Web-Plattformen sowie für künstliche Intelligenz; die Vermittlung digitaler und politischer Kompetenz müsse der Identifizierung und Bekämpfung undemokratischer Inhalte im Internet dienen; am wünschenswertesten sei eine einheitliche digitale Verfassung für Europa. Auch für die Fragen der Repräsentation von Minderheiten im Internet sowie die Bestimmung der digitalen Verantwortung des Einzelnen mag die Cluster-Keynote von Ivars Ijabs hier ein thematisches Raster vorgegeben haben.


In seiner Keynote zu Cluster C präsentierte Paulius Jurčys Voraussetzungen für mehr Datensouveränität aus der Sicht des Individuums bzw. Benutzers. Der Nutzer solle sich seine Daten von den Portalbetreibern zurückholen und künftig immer in seiner persönlichen ‚Cloud‘ mit sich tragen können. Auch wenn man nicht wisse, ob der Besitz der eigenen Daten ein Menschenrecht sei, gebe es zumindest wirtschaftliche Argumente zugunsten eines solchen Besitzrechts. Die Abschlusspräsentation der Gruppe stimmte ihm darin zu; jeder sollte die eigenen Datenrechte kennen, und Datenflüsse sollten von der Zustimmung der Dateneigner abhängen.


In seiner Keynote zu Cluster D gab Gediminas Drabavičius eine kompakte Einführung in Techniken der Genombearbeitung und stellte ihre grundsätzlichen Zielsetzungen zur Diskussion: Heilung und Prävention vererbbarer Krankheiten oder die planvolle Optimierung noch ungeborenen Lebens. Hier lehnte die Arbeitsgruppe in ihrem Abschlussstatement genetisches Design nachdrücklicher ab als der Referent. Jeder Betroffene solle selbst über die Anwendung von Gentechnik entscheiden können. Es sei unklar, wer über die Lebensqualität gesunder oder kranker Menschen bestimmen dürfe. Die EU sollte über die für jeden zulässigen genetischen Behandlungen entscheiden.


Wenn nur ein Teil der Forderungen aus den rationalen, disziplinierten und unaufgeregten Diskussionen in der EU ebenso umgesetzt würde, gingen wir friedlichen Zeiten entgegen. In den meisten Abschlusspapieren wird auf Erziehung und Bildung gesetzt als große Zukunftsaufgaben und Chancen. Zu fragen bleibt freilich, wer wen nach welchen Maßstäben, mit welchen Zielen erziehen soll. So schien nur selten ein Bewusstsein von dem grundsätzlichen Wandel fundamentaler Konzepte und Phänomene wirklich offen angesprochen zu werden. Wieviel hat denn eine heutige Mediendemokratie noch gemeinsam mit dem, was eine kleine Schicht von Vollbürgern Athens vor zweitausend Jahren ‚erfand‘?

Schließlich hätte Nollers Eröffnungsvortrag Steilvorlagen geboten für mögliche Konzeptualisierungen der Persönlichkeitsrechte im Internet, des Datenbesitzes und vielleicht sogar der Gentechnik, da Kant ja zumindest implizit klare anthropologische Aussagen trifft. Nicht eines der Abschlusspapiere aber nahm auf Kant Bezug. Was aber soll ein Europa zusammenhalten, das nach Bildung und Erziehung ruft, wenn nicht ein aufgeklärtes Verhältnis zu seiner Tradition? Woher sollen die Maßstäbe kommen, um Recht von Unrecht, Demokratie von Totalitarismus zu unterscheiden?


Und so stellt sich die Frage, wie weit hier die historische Dimension der aufgeworfenen Fragestellungen wirklich begriffen wurde. Die DBK in Vilnius hat wichtige Fragen gestellt. Man mag künftigen Konferenzen noch mehr Mut zur Interdisziplinarität wünschen, aber auch zum Hinterfragen eines Diskurses, der Antworten in Erziehung und Bildung sucht, diese selbst aber in ihrer Geschichtlichkeit kaum noch präsent hat. Dass junge Leute vor allem Erziehung und Bildung fordern, ist ein ermutigendes Signal. Erziehung und Bildung aber lassen niemanden unverändert zurück - und sie lassen sich auch niemals einfach so fertig wie ein Sixpack aus dem Kofferraum holen.



Zwei Männer stehen vor einem Plakat
Moderator Jürgen Buch und Schirmherr DBK Vilnius, Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Vilnius Arnoldas Pranckevičius

Viele Menschen schauen bei einer Videokonferenz fröhlich in eine Kamera.
Teile des DBKVilnius20 Planungsteams

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