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Rechte, Reformen, Revolutionen – der Landrat Reinhold Stael v. Holstein (1846-1907)

ARCHIVALIA BALTICA ONLINE 6. Ausgabe (März 2023)

Reinhold Stael v. Holstein, dessen Nachlass hier kurz vorgestellt werden soll, war ein Vertreter der ritterschaftlichen Reformpartei. Geboren 1846 nahe Pernau, absolvierte er die Schule in Fellin, studierte in Dorpat und unternahm Reisen durch Deutschland und Italien. Seine politische Karriere begann er 1875 und war 1893-1902 Livländischer Landrat. Danach wurde er als „dimittierter“ Landrat in politische Debatten und Entscheidungen einbezogen und blieb einflussreich. 1907 starb er in Dorpat.


Die Nachlässe von Stael v. Holstein und Jegór v. Sivers

Briefumschlag der Verlagsbuchhandlung Kluge & Ströhm
Bucheinband mit Aufschrift in Goldprägung (Archivsignatur: CSA 100 Stael-Holstein 85)

Der Bestand des Nachlasses von Stael v. Holstein (hier wird die Schreibweise des Namens nach dem DBBL verwendet) wurde der Carl-Schirren-Gesellschaft vor 1975 übergeben. Er umfasst 85 Archivalieneinheiten. Ein Teilnachlass Stael-Holstein gelangte an Olaf Welding (1893-1960) in Stade, dessen Sammlung sich seit 1963 in der UB Bremen befindet. Der Lüneburger Bestand enthält auch einen Teilnachlass von Jegór v. Sivers (1823-1879), der einer der entschiedensten Befürworter von Reformen war und damit die gleichen Ideen vertrat wie Stael.

Wandel der Ständegesellschaft in Estland, Livland und Kurland im 19. Jahrhundert

Lebens- und Wirkungszeit Staels fällt in eine Zeit großer Herausforderungen an die Ständegesellschaft in den russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland. Diese hatte sich länger als in anderen Ländern Europas gehalten, gestützt auf die „Privilegien“, die

den Ständen im 16. Jh. vom König von Polen gewährt und seitdem von allen Herrschern der jeweils nachfolgenden dominierenden Großmächte, also den Königen von Schweden und den russischen Zaren, bis in die Mitte des 19. Jhs. bestätigt wurden.


Zar Alexander III. war der Erste, der die Bestätigung der „Privilegien“ verweigerte. Russland baute die regionale Selbstverwaltung der Ostseeprovinzen immer mehr ab zugunsten eines von Petersburg ausgehenden Zentralismus, zu dem bald auch noch die Russifizierungspolitik kam. Geriet die Ständegesellschaft so von oben unter Druck, geriet sie allmählich auch unter Druck von unten: Die Mehrheitsvölker der Esten und Letten beanspruchten politisches Mitspracherecht. Auf diese doppelte Herausforderung reagierten die Ritterschaften in zwei Richtungen: Eine Reformpartei, die versuchte, die überkommene politische Struktur den modernen Erfordernissen anzupassen, vor allem Esten und Letten zu gewinnen, die Besonderheiten der gemeinsamen Heimat gegen die russische Regierung zu schützen und ihnen dafür auch entgegenzukommen bereit war. Da gab es die andere Partei, die keinerlei Veränderungen zulassen wollte und die fürchtete, dass jede Art von Entgegenkommen gegenüber Esten und Letten die eigene Stellung weiter schwächen würde.

Veröffentlichungen über die Reformbewegungen und zu Fürst Paul Lieven und Hamilkar v. Fölkersahm

Stael sah, dass eine auf die Reform der livländischen Verfassung ausgerichtete ritterschaftliche Reformpolitik seit den 1860er Jahren dringend notwendig gewesen wäre, dass die Ansätze dazu aber gescheitert waren. Es erscheint nicht von ungefähr, dass Stael 1906 und 1907, also unmittelbar nach dem revolutionären Geschehen von 1905, umfangreiche Studien über die „Reformbewegungen in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts“ („Balt. Monatshefte“) und Monographien über führende Repräsentanten der ritterschaftlichen Reformpartei wie den Fürsten Paul Lieven (1821-1881) und Hamilkar v. Fölkersahm (1811-1856) vorlegte. Seine und seiner Mitstreiter Tragödie war, dass die Zeit, diesen Weg aus eigener Kraft gestalten zu können, seit den 1880er Jahren bereits abgelaufen war, auch wenn die russische Regierung Teile der Russifizierungs- und Zentralisierungspolitik infolge der Revolution zurücknahm und es einen Moment so schien, wie wenn die ritterschaftliche Reformpolitik früherer Jahrzehnte noch einmal eine Chance bekommen könne. Gerade auch in diesem Zusammenhang erscheinen Staels Veröffentlichungen 1906/1907 wie eine wissenschaftlich gegründete Vergewisserung seiner eigenen politischen Konzeptionen.



„Der Fürst Paul Lieven als Landmarschall von Livland“. Titelblatt und erstes Blatt des Manuskripts von Reinhold Stael v. Holstein (Archivsignatur: CSA 100 Stael-Holstein 52a).


Zusammenarbeit mit Jaan Tõnisson?

Stael trat für Reformen ein, bemühte sich insbesondere um eine neue Livländische Verfassung, die zu einer politischen Beteiligung von Esten u. Letten führen musste. Deshalb setzte er sich dafür ein, den Redakteur des „Postimees“ (Dorpat) und bekannten estnischen Politiker Jaan Tõnisson (1868-1941) als Vertreter der Esten hinzuzuziehen. Es fanden 1905 Gespräche statt, von denen zumindest zwei durch Protokolle genauer dokumentiert sind. Die atmosphärischen und politischen Differenzen waren allerdings bereits so groß, dass es trotz weiterer Besprechungen zu keiner politisch zukunftsweisenden Zusammenarbeit kommen konnte.


Die Bedeutung des Nachlasses Staels v. Holstein im Archiv der Carl-Schirren-Gesellschaft

Der im Carl-Schirren-Archiv in Lüneburg der Forschung jetzt wieder zur Verfügung stehende Teilnachlass von Reinhold Stael v. Holstein ergänzt die Materialien an anderer Stelle und eröffnet Einblicke in seine Vorstellungswelt und in die Maßstäbe seiner politischen Bewertungen und Entscheidungen. In Verbindung mit seinen Veröffentlichungen über die ritterschaftlichen Reformbemühungen im 19. Jh., vor allem auch über einzelne ihrer Repräsentanten, gewinnen wir ein umfassendes Bild seiner Persönlichkeit – als Politiker und als Historiker.

Dorothee M. Goeze, Peter Wörster


Literaturhinweise:

DBBL: Deutschbalt. Biogr. Lexikon, S. 757. Gert v. Pistohlkors: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung u. Revolution. Göttingen u.a. 1978, darin Exkurs “Die politische Konferenz Livländ. Landräte mit führenden Esten in Dorpat am 23. Oktober 1905“, S. 229-239. Dorothee M. Goeze u. Peter Wörster: Für alte Landesrechte, Selbstverwaltung u. Reformen. Archivarischer Blick auf Reinhold Stael v. Holstein (1846-1907). In: Dtbalt. Jb., Bd. 71 (2023), im Druck.

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