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Dorothee M. Goeze, Peter Wörster

"Gefühllos trägt mich fort des Schicksals Welle" – das Fremdenbuch des Sommers 1918 von Gut Megel

ABO - ARCHIVALIA BALTICA ONLINE 4. Ausgabe (September 2022)


Titelblatt des Fremdenbuchs von Gut Megel bei Dorpat

Aus der Überlieferung der Familie v. Samson erhielt das Carl-Schirren-Archiv 2017 ein Gästebuch (hier "Fremdenbuch" genannt) von Gut Megel (estn. Neeruti), das 33 km südwestlich von Dorpat (estn. Tartu) liegt und von 1798 bis 1920 im Eigentum der Familie v. Kymmel war. Neben diesem Gästebuch gehörte zu der Erwerbung auch ein Poesiealbum von Amrei v. Kymmel, der Tochter der Familie.

Extra-Ausgabe der "Dorpater Zeitung" vom 24. Febr. 1918

Zur Entstehung des Gästebuchs von Gut Megel bei Dorpat

Der Entstehungszusammenhang des Gästebuchs ist politisch motiviert. Es wurde mit dem "Einzug der Deutschen in Dorpat" begonnen. Entsprechend stammt der erste Eintrag vom 24. Febr. 1918 und betrifft die Situation, ja die Stimmung, die in der hier ebenfalls beigegebenen Extra-Ausgabe der "Dorpater Zeitung" ausführlich beschrieben wird. Die große Erleichterung der Deutschen ist zu spüren, dass mit diesem Einzug der (reichs)deutschen Truppen die Monate der bolschewistischen Schreckensherrschaft zu Ende gegangen sind, dass dieser "Einzug" ihre ganz persönliche Befreiung aus lebensbedrohlicher Gefährdung gebracht hat, Befreiung von der Sorge, verhaftet, gefoltert, deportiert, erschossen zu werden.

Die Gäste der Familie von Kymmel

In diesem ersten Eintrag werden sechs (reichs)deutsche Offiziere namentlich genannt (Herkunftsorte: Diez a.d.L., Fiersen, Köln), dazu noch der Deutschbalte Kurt von Samson, der damals dem deutschbaltischen Selbstschutz angehörte und später eine Tochter der Familie von Kymmel geheiratet hat. Der letzte Eintrag in diesem Buch stammt vom 25. Aug. 1918. Die Eintragungen im "Fremdenbuch" von Gut Megel bezeugen die auch aus anderen Zusammenhängen bekannte Tatsache, dass Gutsbesitzerfamilien in dieser Zeit deutsche Offiziere auf ihre Güter einluden, wo sie oft mehrere Tage zu Gast blieben. Zwei Seiten aus dem "Fremdenbuch" von Megel (Bl. 3v + 4r) zeigen Einträge (reichs)deutscher Familiennamen (Wolfgang Bark, Kurt Liebner, Rudolf Steiner [nicht der bekannte Begründer der Anthroposophie 1861-1925) neben deutschbaltischen Namen (Blanckenhagen, Klopmann, Middendorff, Samson, Toll).


Historischer Zusammenhang

Am 3. März wurde der Friedensvertrag von Brest-Litovsk unterzeichnet. Um ihn zu erzwingen, besetzten (reichs)deutsche Truppen im Februar 1918 Livland und Estland. Im April 1918 konstituierte sich der Vereinigte Landesrats von Livland, Estland, Riga und Ösel (35 deutsche, 13 estnische und 10 lettische Delegierte), der den Deutschen Kaiser bat, aus den bisherigen drei russischen Ostseeprovinzen einen Staat zu bilden, deren monarchische Spitze in Personalunion mit Preußen besetzt werden sollte, was aber am Widerstand der deutschen Bundesfürsten scheiterte. Am 22. Sept. anerkannte Kaiser Wilhelm II. Livland und Estland als "frei und selbständig". Vom 5. bis 9. November 1918 tagte in Riga der Vereinigte Landesrat und beschloss die Konstituierung eines baltischen Staates und begann mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Es wurde eine provisorische Regierung in Gestalt eines Regentschaftsrates gebildet, dem 4 Deutsche, 2 Esten und 2 Letten angehörten, zu denen noch ein Deutscher und ein Lette hinzukamen, als die Mitwirkung Kurlands gesichert war. Zum Vorsitzenden des Regentschaftsrates wurde Adolph Baron Pilar v. Pilchau gewählt, der früher livländischer Landmarschall war. Nach der Revolution in Deutschland (Abdankung Kaiser Wilhelms II. am 9. Nov. 1918 und Ausrufung der Republik) notierte August Winnig, der Bevollmächtigte des Deutschen Reiches in baltischen Fragen: "Der deutsche Baltenstaat zerfloß wie im Traum.".

Das Abschiedssonett von Kurt Schaal

Es fällt auf, dass nicht wenige Einträge im hier vorgestellten "Fremdenbuch" mit eigenen mehr oder weniger umfangreichen Dichtungen versehen wurden. Aus diesen ragen der Qualität wegen die beiden von Kurt Schaal hervor. Eines soll hier mitgeteilt werden (Bl. 5v + 6r). Kurt Schaal war Leutnant der Reserve und Kompanie-Führer. Woher er stammte und was er im Zivilberuf arbeitete, wird nicht mitgeteilt. Auch bleibt bis auf weiteres ungewiss, was mit ihm nach dem Abschied von Livland geschehen ist. Jedenfalls scheint er mit Dichtungen später nicht mehr hervorgetreten zu sein, da er in allen einschlägigen literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken nicht vorkommt. Es wäre zu prüfen, ob er vielleicht in der Endphase des Ersten Weltkriegs noch gefallen ist. Sein erster Eintrag im "Fremdenbuch" stammt vom 27. März 1918. Sein Sonnett ist aus Anlass des Abschieds von Gut Megel und von der Familie von Kymmel, seinen Gastgebern, am 10. Aug. 1918 entstanden.

"Nun steh ich, Abschied nehmend, auf der Schwelle

des Hauses, in dem die Heimat ich gefunden.

Noch einmal fühl das Glück ich jener Stunden -

Vorbei - gefühllos trägt mich fort des Schicksals Welle.

Durch diese Räume ging ein stilles Weben,

als knüpfe sich ein unsichtbares Band

Von aller Herz zu Herz, von Hand zu Hand,

Als könnt der Eine sein Glück dem Andern geben.

Die Zeit ist um, die Türe fällt ins Schloß -

Es stirbt die Wirklichkeit - Erinnerung lebt

Umstrahlt vom Sonnenschein: Ein blühender Genoß.

O Sonnenschein! Den ihr dem Wandrer gebt!

Und ich? Nur dieses sinkende Sonnett?

O nein! Ein treu Gedenken bis ins Totenbett!

Kurt Schaal

Lt. der Reserve u. Komp.Führer. 10./431"


Eintrag im Fremdenbuch von Gut Megel vom 24.02.1918

Eintrag im Fremdenbuch von Gut Megel, Sommer 1918

Eintrag im Fremdenbuch von Gut Megel von Kurt Schaal

Dorothee M. Goeze, Peter Wörster

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